Im Interview zum Thema „Lieblingskinder“ *

Wie kann es dazu kommen, dass Eltern ein Kind bevorzugen?
Zunächst kann sich das in den Umständen rund um die Geburt dieses Kindes begründen, wenn diese beispielsweise sehr dramatisch waren oder das Kind ursprünglich nicht geplant war. Die Auswirkungen können in sehr verschiedene Richtungen gehen. Angst, Schuldgefühle, Überbehütung Auch später können Krankheiten oder andere einschneidende Erlebnisse zu ähnlichen Mechanismen führen.

Ein weiterer Grund ist, dass Eltern sich häufig dem Kind näher und verbundener fühlen, das ihnen selbst ähnlicher ist. Auch das Verhalten und die Persönlichkeit der Kinder selbst spielt eine Rolle: Die Kinder, die gut auf unsere Unterstützung reagieren, werden häufiger auch stärker gefördert. Andere Kinder, die nicht so positiv darauf reagieren, kommen dann zu kurz. Möglicherweise brauchen diese aber einfach andere Angebote.

Wie kann ich alle Kinder gleich behandeln?
Ich spüre bei Eltern heute häufig auch eine Angst, ihre Kinder nicht gleich zu behandeln. Dabei muss man sich vor Augen halten: jedes Kind ist ganz anders, auch in seinen Bedürfnissen. Wenn unterschiedliche Bedürfnisse der Kinder damit beantwortet werden, dass alle dasselbe bekommen, sind die Kinder hinterher unterschiedlich gut versorgt. Fair dagegen ist es, wenn jedes Kind nach seinen Bedürfnissen Unterstützung und Förderung erhält. Das gleicht unterschiedliche Startbedingungen aus.

Manche Kinder reagieren gut auf körperliche Nähe, andere auf Lob und Anerkennung, wieder andere auf gemeinsame Aktivitäten und ungeteilte Aufmerksamkeit. Sie wollen gesehen werden, in dem was sie sind und was ihnen gefällt und gut tut.

Was macht das mit den betroffenen Kindern, wenn sie merken, dass ihr Bruder oder ihre Schwester gezielt bevorzugt wird?
Das Kind erlebt sich nicht nur als anders als die anderen, sondern als weniger wert. Es sieht sich neben seinen Geschwistern und sucht den Fehler für die Ungleichbehandlung bei sich, weil es noch nicht objektiv eine Situation beurteilen kann. Im gesünderen Fall wird es wütend und schreit auf unterschiedliche Arten nach Aufmerksamkeit, im schlechteren Fall gibt sich das Kind selbst auf. Es kommt natürlich ganz auf das Ausmaß an, aber in jedem Fall zieht das Kind seine Schlüsse aus dem Erlebten: ich passe nicht, ich bin falsch etc. Es kann nicht die Grunderfahrung machen, dass es ein geliebter und wertvoller Mensch ist. So eine angekratzte Seele produziert jede Menge negativer Verhaltensweisen. Aber auch die bevorzugten Kinder leiden darunter; auch die Überzeugung „Ich bin etwas Besonderes“ etc. kann eine Last sein, dann müssen sie ihr Leben lang in anderen Beziehungen auch etwas Besonderes sein. Auch ihnen fehlt letztlich die bedingungslose Annahme, denn sie sehen, dass Liebe nach Willkür, anpassendem Verhalten oder Leistung verteilt wird.

Kann die Erfahrung von Ungleichheit nicht eine Lehre für das spätere Leben der Kinder sein?
Kinder lernen früh, dass wir nicht alle gleich sind und das ist auch eine schöne Erfahrung. Kinder können auch begreifen, dass manchmal nicht jeder das Gleiche bekommt. Bis zu einem gewissen Grad halten die Kinder das gut aus. Aber generell haben Kinder ein sehr feines Gespür für Ungleichbehandlung. Wenn Geschwister explizit bevorzugt oder benachteiligt werden, ist das eine sehr schmerzhafte Erfahrung mit weitreichenden Folgen.

Nicht jedes Kind mag die gleichen Unternehmungen oder freut sich über die gleichen Geschenke. Jedes Kind hat ganz unterschiedliche Vorlieben. Aber Kinder brauchen die Erfahrung, dass sie wertvoll und geliebt und geschätzt sind. Das darf nicht ungleich verteilt werden.

Wie sollte man sich verhalten, wenn man merkt, dass man selbst oder der Partner ein Kind bevorzugt?
Bei den meisten Dingen gilt: eine Offenlegung kann Heilung begünstigen. Also: offen ansprechen. Verstecktes oder Unausgesprochenes bindet. Das gilt auch für die Familie. Wenn Eltern ins Gespräch kommen, können sie sich gemeinsam reflektieren und danach schauen, wie sie ihren Kindern gerecht werden können. Wenn uns Dinge bewusst werden, können wir auch darauf reagieren. Auch Kinder selbst können je nach Alter miteinbezogen werden. Und dort, wo Dinge zur Sprache kommen, können sie auch bereinigt und vergeben werden.

 

* Live-Interview von Janina Englert durch Pastor Gerson Wehrheim, inhaltlich angelehnt an einen Artikel der „Psychologie heute“ vom 13.06.2018, in dem der Kinderpsychiater Jörg M. Fegert und der Soziologe Martin Diewald zum Thema zu Wort kommen